«Ältere Menschen werden geschätzt»

    Seniorinnen und Senioren sind im Durchschnitt noch nie so gesund wie heute. Zudem nehmen ältere Menschen eine zentrale Funktion in unserer Gesellschaft wahr. Dies erlebt Alain Huber, Direktor Pro Senectute Schweiz tagtäglich bei seiner Arbeit. Hier spricht er über Altersarmut, die Reformen in den Sozialwerken sowie den Zusammenhalt und die Solidarität aller Generationen, die durch die Pandemie eine neue Bedeutung erhalten hat.

    (Bilder: zVg) 96 Prozent der Seniorinnen und Senioren leben heute in den eigenen vier Wänden. Dabei ist die Pro Senectute eine wichtige Anlaufstelle bei Alltagsfragen.

    Pro Senectute ist die bedeutendste Dienstleistungsorganisation für Altersfragen in der Schweiz. Wie geht es den älteren Menschen in der Schweiz?
    Alain Huber: Grundsätzlich gut. Heute sprechen wir von Generationen im Pensionsalter, die grossmehrheitlich finanziell gut dastehen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass nach wie vor jede achte Person unter Altersarmut leidet. Sprich in der Schweiz leben zwischen 200’000 und 300’000 Menschen im Pensionsalter, die arm sind. Gesundheitlich gesehen waren die Seniorinnen und Senioren im Durchschnitt noch nie so gesund wie heute. Menschen im Pensionsalter können sich heute auf rund zehn gesunde Jahre mehr freuen, als noch vor 30 Jahren.

    Die Pandemie war und ist eine grosse Herausforderung gerade für ältere Menschen. Was macht den Seniorinnen und Senioren zurzeit am meisten Sorge?
    Mehrere Themen: Ein zentrales Thema ist die Betreuung und Pflege im Alter. 96 Prozent der Seniorinnen und Senioren leben heute in den eigenen vier Wänden. Oft braucht es Unterstützung von Dritten, damit dies bis ins hohe Alter möglich ist. Den Löwenanteil dieser Aufgaben übernehmen nach wie vor die Familie und Verwandte. Mit zunehmendem Alter wandeln sich jedoch die Bedürfnisse älterer Menschen, was zu einem Kraftakt für das freiwillige Netz der Helfenden wird. Es braucht gute, professionelle und vor allem finanzierbare Dienstleistungen, um die ältere Bevölkerung zielgerichtet dort zu unterstützen, wo der Erhalt der Selbständigkeit und Autonomie im eigenen Zuhause gefördert werden kann. Zudem gilt es, die Altersvorsorge der erwarteten demografischen Entwicklung anzupassen und das heutige Rentenniveau der AHV abzusichern und die Weichen der Beruflichen Vorsorge neu zu stellen, um gerade den jungen Menschen eine Perspektive auf eine finanziell gesicherte Altersvorsorge zu geben.

    Alain Huber, Direktor Pro Senectute Schweiz: «Wir wünschen uns, dass Menschen in der Schweiz bis ins höchste Alter als mitgestaltende und wertgeschätzte Mitglieder der Gesellschaft leben können.»

    Wie hat sich aufgrund der Pandemie die Solidarität zwischen den Generationen und den älteren Menschen verändert?
    Die Erfahrungen des letzten Jahres zeigen, dass die Solidarität in der Schweiz gross ist, wenn wir in einer Notsituation sind. Ältere Menschen werden geschätzt. Sie sind ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Miteinanders. Es braucht den Zusammenhalt und die Solidarität aller Generationen, um auch in schwierigen Zeiten als Gesellschaft zu funktionieren. Ältere Menschen nehmen dabei zentrale Funktionen wahr: Sie hüten Grosskinder, betreuen ihre Nächsten beim Älterwerden und sind sehr häufig ehrenamtlich in Milizämtern, Vereinen oder Organisationen tätig. So darf auch Pro Senectute auf mehr als 18’400 vorwiegend ältere Menschen zählen, die unsere Dienstleistungen als Freiwillige erst möglich machen. Doch diesem Zusammenspiel der Generationen muss Sorge getragen und Wertschätzung entgegengebracht werden. Jetzt, nach einem intensiven Jahr, müssen wir beweisen, dass dieser Zusammenhalt über eine längere Zeit spielt. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird.

    Ein grosses Thema für uns alle im Alltag ist die Digitalisierung, die durch Corona nun noch beschleunigt wurde. Was sind die grössten digitalen Herausforderungen für die ältere Bevölkerung?
    Wir beobachten die digitalen Veränderungen genau und sind immer aktiv, wenn sie sich für Seniorinnen und Senioren als unzumutbar erweisen. Denn Pro Senectute ist da, um die ältere Bevölkerung zu befähigen, an der immer digitaleren Gesellschaft teilzunehmen. Meldungen über schliessende Bankfilialen oder QR-Code-Einzahlungsscheine bereiten den Menschen oft Sorge. Hier ist es an uns zu informieren und bei den neuen Abläufen zu unterstützen. Wir setzen uns aber immer dafür ein, dass älteren Menschen bei digitalen Veränderungen genügend Zeit und alternative Angebote für die Übergangsphase zur Verfügung stehen. Wir stellen mit Bedauern fest, dass für Seniorinnen und Senioren mit den sich ändernden alltäglichen Tätigkeiten wie Posteinzahlungen oder Geldabheben soziale Kontakte verloren gegangen sind. Wir bieten daher viele alternative Möglichkeiten, um soziale Kontakte zu pflegen, wie Freizeitangebote, Besuchsdienste und Freiwilligenarbeit.

    Laut der Studie «Digitale Senioren 2020» kann die Mehrheit der Seniorinnen und Senioren heute mit digitalen Kommunikationstechnologien umgehen. Wie digital sind die älteren Menschen im Alltag wirklich?
    Die Zahlen sind erfreulich und die Entwicklung digitaler Kompetenzen wurde aufgrund der Corona-Pandemie sicherlich beflügelt, um trotz physischer Distanz mit seinen Nächsten in Kontakt bleiben zu können. In Zahlen gesprochen waren per Ende 2019 74 Prozent der Seniorinnen und Senioren online unterwegs. Jungseniorinnen und -senioren können mittlerweile im Umgang mit digitalen Kommunikationstechnologien sogar mit der jüngeren Bevölkerung mithalten. Der Anteil der «Online-Senioren» hat sich seit 2010 fast verdoppelt, zwei Drittel besitzen Tablets oder Smartphones. Die mobile Nutzung des Internets ist seit 2015 um mehr als das Doppelte gestiegen. Ältere Menschen, die offline unterwegs sind, sind heute in der Minderheit und vorwiegend über 80 Jahre alt. Die Generation 65+ zeigt klar Gefallen an der digitalen Welt. Das geht aus der Studie «Digitale Senioren 2020» von Pro Senectute Schweiz hervor.

    Ein Achtel der älteren Bevölkerung in der Schweiz ist von Armut betroffen. Ist die Sensibilisierung für Altersarmut noch zu gering und was kann diesbezüglich Gesellschaft und Politik tun?
    Armut im Alter ist noch immer weit verbreitet, denn in keiner Altersgruppe sind die Vermögen und Einkommen so ungleich verteilt, wie bei den über 60-Jährigen. Noch immer ist jede achte Person im Pensionsalter auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen, um die minimalen Lebenskosten zu decken. Das zeigt, dass die AHV ihren verfassungsmässigen Auftrag der Existenzsicherung im Alter nicht erfüllt und die Reform der ersten Säule mit Tempo auf Kurs gebracht werden muss. Doch auch bei der beruflichen Vorsorge herrscht akuter Reformbedarf. Es ist wichtig, dass die Politik massvolle und für alle zumutbare Reform-Pakete schnürt, die vor dem Volk bestehen können. Doch auch die per Anfang 2021 umgesetzte EL-Reform braucht einen weiteren Schritt, damit diese langfristig finanziell stabilisiert werden kann, ohne die Menschen im Alter zu bestrafen. Das kann mit einer Entlastung bei den Heimkosten und einer Verlagerung hin zu einer besseren Unterstützung bei der Betreuung zu Hause passieren. EL-Beziehende im Heim beziehen rund dreimal höhere EL als diejenigen zu Hause. Dies überrascht angesichts der durchschnittlichen Heimkosten von jährlich 72’000 Franken wenig, zeigt aber, wie wichtig es ist, die EL genau an diesem Punkt durch die gezielte finanzielle Unterstützung von Betreuungsleistungen zu Hause zu entlasten.

    Was wünschen Sie sich für Pro Senectute wie auch für die ältere Bevölkerung für die Zukunft?
    Wir wünschen uns, dass Menschen in der Schweiz bis ins höchste Alter als mitgestaltende und wertgeschätzte Mitglieder der Gesellschaft leben können, frei von Ausgrenzung und Armut im Alter. Wir wünschen uns, dass die ältere Bevölkerung ihr Leben in Würde geniessen können und auf individuelle Unterstützung zählen können, um möglichst autonom in ihrem Zuhause alt werden zu können. Dafür machen wir uns mit 1800 Mitarbeitenden und über 18’400 Freiwilligen in unserer täglichen Arbeit in allen Landesteilen stark (siehe Kasten).

    Interview: Corinne Remund


    Über 100 Jahre Pro Senectute

    Am 23. Oktober 1917 gründen zehn Männer unter dem Patronat der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft die Stiftung «Für das Alter». Gemeinsam wollen sie die Lage der überwiegend bedürftigen älteren Menschen in der Schweiz verbessern, was auch heute noch in der Vision der Organisation grossgeschrieben ist. Dazu gehörte schon bald die Forderung nach einer staatlichen Altersvorsorge, was das Volk 1925 an der Urne ebenfalls wünschte. Es verstrichen einige Jahre, bis 1947 das Bundesgesetz zur AHV vom Schweizer Stimmvolk bestätigt wurde. Doch die ersten Renten waren bescheiden und genügten selten, um den Lebensunterhalt zu decken. Viele Seniorinnen und Senioren waren weiterhin auf unsere Unterstützung angewiesen. Pro Senectute setzte sich nebst der Armutsbekämpfung für ein vielseitiges Leben in Würde ein, wofür 1950 ein schweizweites, niederschwelliges Kursprogramm für die ältere Bevölkerung etabliert werden konnte. Mit der Einführung der beruflichen Vorsorge, der zweiten Säule der staatlichen Altersvorsorge, war ein weiterer wichtiger Schritt in der Bekämpfung der Altersarmut gemacht, für welchen sich Pro Senectute stark machte – und es noch immer tut, stehen doch wichtige Reformen in diesen Sozialwerken an.


    Pro Senectute Kanton Bern

    Die 24 kantonalen und interkantonalen Pro Senectute Organisationen stehen der älteren Bevölkerung und deren Angehörigen mit 130 Beratungsstellen in der ganzen Schweiz zur Seite. Die Geschäftsstelle Ihres Wohnkantons steht Ihnen mit Beratungen, Informationen und Dienstleistungen zur Seite:

    Pro Senectute Kanton Bern
    Worblentalstrasse 32
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    be.prosenectute.ch

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